Ralf Sürken, CEO Europe, Syntax: „Der industrielle Mittelstand muss sich jetzt intensiv mit Künstlicher Intelligenz befassen. Wer das versäumt, riskiert die Existenz des Unternehmens.“

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Weinheim

Ralf Sürken ist CEO Europe des globalen IT-Dienstleisters Syntax. Das Unternehmen ist spezialisiert auf SAP- und Cloud-Services für den industriellen Mittelstand. Er erläutert, was Künstliche Intelligenz für Deutschlands Schlüsselbranche bedeutet.

Herr Sürken, Künstliche Intelligenz ist die Technologie, die Wirtschaft und Gesellschaft im letzten Jahr so sehr durchgerüttelt hat wie bisher kaum eine andere. Egal ob Unternehmenslenker oder Schüler – alle waren elektrisiert und wollten sie nutzen. Jetzt sehe ich nach wie vor Euphorie – aber auch viel Ernüchterung.

RS: Das ist normal und gut so. Das ist das Tal der Enttäuschungen, das jede Innovation erlebt. Kennen Sie den Gartner Hype Cycle? Der besagt, dass innovative Technologien, wenn sie auf den Markt kommen, erstmal eine riesige Begeisterung auslösen – und dann kommt der Realitätsschock. Das hat damit zu tun, dass alle erstmal zu viel, zu schnell, das Falsche erwartet haben. ChatGPT war im ersten Moment so unglaublich, dass alle dachten, das verändert von heute auf morgen die Welt. Ich bitte aber zu bedenken, dass das öffentliche ChatGPT noch nicht einmal zwei Jahre alt ist – und dass KI natürlich viel mehr ist als ChatGPT. Es hat sich nichts geändert: KI ist die disruptive Technologie, die dafür sorgen wird, dass unsere Wirtschaft in 10 Jahren anders aussieht als heute.

Sie sind CEO eines IT-Dienstleisters, der auf den industriellen Mittelstand spezialisiert ist. Wie weit ist das Herzstück der deutschen Wirtschaft in puncto KI?

Dass KI ein Kernthema ist, das wissen eigentlich alle. Viele experimentieren damit, und manche arbeiten auch schon produktiv mit KI. Ich muss hier also keinen Weckruf aussenden. Aber dennoch: Es muss jedem klar sein, dass die Auseinandersetzung mit KI heute über die Zukunft des Unternehmens morgen entscheidet. Gerade die deutsche Industrie ist auf KI in höchstem Maße angewiesen.

Aus welchem Grund?

Deutsche Produkte stehen seit jeher für Qualität. Nicht ganz günstig, aber unterm Strich mit einem hervorragenden Preis-Leistungsverhältnis. Jetzt haben wir aber die Situation, dass uns Fachkräfte fehlen, dass Energie teurer ist als anderswo, es gibt eine schwerfällige Bürokratie und nicht zuletzt sind unsere Produktionsanlagen nicht auf dem neuesten Stand. Hinzu kommt, dass sich andernorts zunehmend in der gleichen Qualität produzieren lässt. Unsere Wettbewerbsvorteile drohen also abhanden zu kommen – und aus meiner Sicht ist KI ein wichtiges Instrument, gegenzusteuern.

Können Sie dafür konkrete Beispiele nennen?

Die Schichtplanung in Zeiten des Fachkräftemangels ist so ein Fall. Was macht eine Produktionsleiterin mit enger Personaldecke, der dann auch noch drei Leute krank ausfallen? Sie muss improvisieren und Maschinen neu besetzen. Wir haben für Kunden intelligente Systeme für die Werkerführung gebaut. Da erhält der Maschinenführer alle nötigen Informationen über einen Bildschirm, ein Tablet oder übers Smartphone – und kann eine Anlage bedienen, auch wenn er nur als Springer aushilft und nicht an der Maschine ausgebildet worden ist. Zeitarbeiter oder Aushilfen lassen sich ebenso sehr schnell produktiv in den Prozess integrieren. KI spielt bei solchen Systemen schon heute eine Rolle. Jetzt ist es an der Zeit, diesen Aspekt weiter auszubauen. Ich sehe das als zentrales Zukunftsthema für die deutsche Industrie, denn der geografische Wandel steht erst am Anfang.

Sie haben auch das Thema Qualität genannt. Welche Rolle spielt KI hier?

Zunächst einmal halte ich es für wichtig, über die Definition von Qualität nachzudenken, also inwieweit sich Kriterien aus Käufersicht eventuell verändert haben. Perfektes Spaltmaß, aber schlechte Software – das lässt sich heutzutage keiner mehr bieten. Wir dürfen also nicht nur ans Blech denken, sondern müssen auch die Software im Blick haben. Und da sind wir auch schon bei KI: Sie hilft bei der Softwareentwicklung, leistet sozusagen die Handlangerarbeiten, während der Mensch den intelligenten, innovativen Input liefert. Und vor allem beim Testen kommt KI ins Spiel. Denn Software Testing ist einer der größten Zeitfresser bei der Entwicklung. Mit Hilfe von KI lässt sich Software für Anlagen, Autos und vieles andere erheblich schneller und besser entwickeln.

Und in der Produktion…?

… leistet KI zum Beispiel wichtige Arbeit bei der Qualitätssicherung. Kameras können die Produktionsstraßen überwachen, um Fehler oder Mängel automatisch zu identifizieren. Hersteller haben so die Möglichkeit, die gängige Sichtkontrolle zu großen Teilen in die Hand des Kollegen Computer zu legen – und die Mitarbeitenden, die das bisher gemacht haben, kümmern sich um andere Sachen. Das ist ja heute – und das finde ich sehr wichtig – eine ganz andere Diskussion als in den achtziger Jahren: Es geht nicht darum, Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken, sondern die Kapazitäten, die ein Unternehmen hat oder die wir als gesamte Volkswirtschaft haben, bestmöglich einzusetzen. Vor allem aber hilft uns KI dabei, in puncto Qualität gegenüber dem Wettbewerb noch eine Schippe draufzulegen – und das zu einem marktfähigen Preis.

Von der Bürokratie hatten Sie vorher noch gesprochen.

Richtig, das ist für mich ein ganz zentraler Punkt, den man nicht unterschätzen darf. Denn dahinter steckt ein enormes Potenzial für die deutsche Industrie. Wir haben in Deutschland über die Jahrzehnte Bürokratie aufgebaut, die in vielen Fällen einfach abgeschafft gehört, darüber herrscht in der Politik parteiübergreifend Konsens. Natürlich gibt es auch sinnvolle Verwaltungsprozesse, die einen guten Zweck verfolgen – Planbarkeit, Transparenz, Fairness, Sicherheit – und die dauern für Unternehmen, die nach globalen Marktgesetzen schnell agieren müssen, einfach zu lange. Das hat unter anderem mit personellen Engpässen in der Verwaltung zu tun, und ich wünsche mir, dass KI hier rasch Einzug hält und unterstützt. Das entlastet die Unternehmen enorm und gibt ihnen die Flexibilität, die für ihre internationalen Wettbewerber ganz normal ist.

Ob nun Behörde oder Betrieb – wie sollen sich Organisationen dem Thema KI annähern?

Erstmal ganz wichtig: Bedenken ausschalten und einfach mal machen, ausprobieren. Natürlich mit Nachdenken, mit klugen Leuten, mit Intelligenz – aber ohne vorauseilende Skepsis und ohne übertriebenen Perfektionismus. Dafür hat es sich bewährt, bunte KI-Teams zusammenzustellen – mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus unterschiedlichen Abteilungen, unterschiedlichen Hierarchiestufen, unterschiedlichen Alters. Je mehr Facetten hier abgebildet sind, desto besser. Die entwickeln dann gemeinsam Ideen und Use Cases und Prototypen, probieren aus, verwerfen, verbessern – und immer wieder kommt dann eine Anwendung heraus, die einen echten Wertbeitrag liefert und die sich innerhalb des Unternehmens skalieren lässt. Das ist im Grunde genommen das ganz normale Innovationsgeschäft, das die deutsche Industrie perfekt beherrscht, nur auf einem anderen Feld.

Brauchen die Unternehmen einen Chief KI Officer?

Oh je, bloß nicht. Überhaupt gibt es den eigentlich schon: KI ist Chefsache und gehört in die Hände des CEO. Der kann Aufgaben delegieren und an seine KI-Teams verteilen. Die aktive Verantwortung bleibt aber immer bei der Unternehmensspitze. Es geht schließlich um nicht mehr und nicht weniger als Zukunftsfähigkeit.

Auch der Wandel hin zu einer durchgängig datengetriebenen Wirtschaft ist eine zentrale Herausforderung für deutsche Unternehmen: Economy 4.0 ist der Schlüssel zur Zukunft der deutschen Industrie. Hintergründe dazu gibt es in diesem Video (https://www.youtube.com/watch?v=S4im0Ppy33k).

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Quelle: ots